Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg

Einblick

Schreiben, was die Seele hergibt

Peter Bieri zeigt in Heidelberg eine philosophische Dimension des Schreibens - und des Lebens

 

"Dass ich einen Roman schreiben wollte, war so geheim, dass nicht einmal ich es wusste." Wenn ein gefeierter Bestsellerautor so etwas in der Rückschau auf die Anfänge seiner literarischen Karriere sagt, klingt das zunächst nur nach einer gelungenen Pointe. Ein Lacher fürs Publikum. Doch Peter Bieri, Philosophieprofessor im vorgezogenen Ruhestand mit Wohnsitz in Berlin, produziert nicht einfach nur mal so, quasi nebenbei einen Lacher. Seine Pointen haben einen ernsten Kern. Wenn er etwa den Motiven nachspürt, die ihn allmählich wegtrieben von seiner akademischen Tätigkeit als Universitätsprofessor und seinen Rollenwechsel zu Pascal Mercier, dem Erfinder zahlreicher Romanhelden, einleiteten, dann ist er nicht nur ganz bei sich, sondern auch philosophisch bei einem Thema, das ihm wichtig ist: Selbsterkenntnis.

 

Im April kam der Autor der millionenfach verkauften Romane "Nachtzug nach Lissabon" (2004), "Lea" (2007), "Der Klavierstimmer" (1998) und "Perlmanns Schweigen" (1995) auf Einladung der Gesellschaft der Freunde nach Heidelberg. Im Gepäck hatte er ein Vortragsmanuskript mit dem Titel "Selbsterkenntnis". Was ist sie? Warum ist sie wertvoll? Es war nicht schwer, ihn von seinem Schreibtisch in Berlin an den beschaulichen Neckar zu locken. Der gebürtige Schweizer, aufgewachsen in Bern, hat fast dreißig Jahre und damit die längste Zeit seines bisherigen Lebens in Heidelberg verbracht. "Es gibt keine Stadt", wird er zum Auftakt seines Vortrags in der Alten Aula sagen, "in der ich so besondere Erlebnisse hatte wie hier." Man merkt ihm an, dass die Erinnerung tief sitzt, ihn in eine Vergangenheit zurückholt, zu der die Gegenwart bisweilen nicht richtig passen will, zum Beispiel wenn er leicht schmunzelnd bekennt, es ärgere ihn fast, feststellen zu müssen, dass Orte, die ihm viel bedeuten, sich verändern. So auch das Haus im Hausackerweg, in dem der Philosoph Ernst Tugendhat und er selbst einmal lebten. "Da dachte ich doch tatsächlich: Das darf so nicht sein!"

 

Die Heidelberger Jahre haben die Biografie von Peter Bieri geprägt. In der Neckarstadt hat er Philosophie, Anglistik, Klassische Philologie und Indologie studiert, auch einen Ausflug in das Fach Medizin gewagt. Er blieb bei der Philosophie und am Philosophischen Seminar Heidelberg, promovierte bei Dieter Henrich mit einer Arbeit über "Zeit und Zeiterfahrung" und arbeitete als dessen Assistent, bis er mit Abschluss der Habilitation im Jahr 1981 Privatdozent wurde. Es folgten Berufungen auf verschiedene philosophische Lehrstühle. Am Ende entschied er sich für einen Umzug nach Berlin, wo er an der dortigen Freien Universität als Nachfolger von Ernst Tugendhat 1993 die Professur für Sprachphilosophie und Analytische Philosophie übernahm. Ein geradliniger akademischer Werdegang also. Auf dessen letzte Meriten hat Bieri verzichtet, als er im Alter von 63 zwar nicht die Philosophie, aber den Job als Philosophieprofessor aufgab, um sich ganz dem widmen zu können, was er am liebsten tut: schreiben, was die Seele hergibt.

Während seines Vortrags zum Thema Selbsterkenntnis schimmert durch, worum sein Denken schon länger kreist. Er nennt es das "Gravitationszentrum der eigenen Emotionen". Eine Metapher, die man erst einmal schlucken muss. Peter Bieri benutzt sie, um seinen 400 Zuhörern, darunter viele begeisterte Leser seiner Romane, deutlich zu machen, dass Personen sich selbst zu verstehen versuchen, indem sie den Triebkräften nachgehen, die ihre Handlungen in eine bestimmte Richtung lenken. Und was wären die Kandidaten für solche Triebkräfte? Es sind die Gedanken, die wir uns machen, die Gefühle, die wir empfinden, und die Bedürfnisse, die wir haben. Diese lassen Wünsche unterschiedlichster Art entstehen, denen man nachgeben oder von denen man sich distanzieren kann. Gedanken, Gefühle und Wünsche haben insofern zunächst nur eine virtuelle Kraft. Sie bestimmen unser Wollen nicht zwangsläufig. Ihre potenzielle Wirkung entfalten sie erst, wenn sie sich an der Willensbildung beteiligen, Entschlüsse reifen lassen, die am Ende in Handlungen zum Ausdruck kommen. "Erkenne dich an Deinen Handlungen!", möchte man da rufen. Bieri selbst wendet es anders: Wenn wir wissen wollen, wer wir sind, müssen wir uns an unsere Ausdrücke halten. Sie sind eine "Quelle der Selbsterkenntnis". Klar, denkt man spontan an dieser Stelle seiner Ausführungen. Ein Schriftsteller hat da leicht reden. Der versteht sich auf den Ausdruck, zumindest auf den sprachlichen Ausdruck. Aber das ist nicht Bieris Punkt. Natürlich gibt es viele Ausdrucksformen, Schreiben ist nur eine von vielen. Das sagt er expressis verbis.

 

Dennoch bleibt der Eindruck haften, dass der Weg der Selbsterkenntnis à la Bieri sich am besten am Modell der Besinnung auf das eigene sprachliche Handeln illustrieren lässt. Es ist vielleicht auch ein ganz gutes Modell, wenn man zugleich vor Augen hat, dass sprachliches Handeln der Prototyp verständigungsorientierten Handelns ist. Da läuft man nicht Gefahr, den Gang der Selbsterkenntnis als Blick auf das Innere des Bewusstseins misszuverstehen, der, wenn überhaupt, nur ganz allein einem selbst zugänglich ist. Introspektion ist also nicht der richtige Weg.

 

Selbsterkenntnis muss eher "den Weg über die Außenwelt nehmen". Nach Bieri wird die Frage, wer ich bin, nämlich begleitet von einem "Streben nach Wahrhaftigkeit". Personen müssen ihr Selbstbild häufig überprüfen und das gelingt nur mit Hilfe anderer Personen. Eine Selbstverständigung, die nicht den Blick der Anderen auf das eigene Selbst einbezieht, ist nur um den Preis häufiger Selbsttäuschungen zu haben. Die aber gilt es zu vermeiden, sonst gelingt auch die Selbstachtung nicht. Laden sprachliche Handlungen nun in besonderer Weise dazu ein, den Blick der Anderen zu berücksichtigen? Erfahren wir etwas über uns selbst, indem wir beispielsweise unsere Äußerungen überdenken? Zumindest liefert die Besinnung auf die eigenen sprachlichen Handlungen gute Beispiele für Erfahrungen der Differenz zwischen Selbstbild und Fremdbild. Wenn wir eine Äußerung überdenken, dann lernen wir nicht nur zu verstehen, welche Gedanken und Gefühle uns so wichtig waren, dass wir sie ausdrücken wollten, sondern wir lernen auch, wie andere diese Äußerung auffassen und damit lernen wir etwas über die Differenz zwischen dem, was wir eigentlich sagen wollten, und dem, was wir tatsächlich gesagt haben. Das kann, wie jeder weiß, sehr nützlich sein. Es hilft vielleicht, ein Missverständnis aus der Welt zu räumen oder eine Meinung zu korrigieren. Vor allem aber sieht man daran, dass in jeder Selbstverständigung die Chance zu einem Neuanfang liegt. Und das ist es, was am Ende zählt. Deshalb ist Selbsterkenntnis wertvoll.

 

"Die interessantesten Erzählungen sind die, die misslungen sind", sagt Bieri gegen Ende seines Vortrags. An welche Erzählungen er denkt, verrät er nicht. An seine eigenen wohl kaum, oder doch?

 

Sabine von Helmolt

 

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Fragen oder Anregungen zu diesen Seiten: Philippe Bayer
Stand: 10. Juli 2008
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