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   ALUMNI REVUE - WINTER 2006/2007
       

    
    
 

Titel


Codex Manesse und Online-Recherche

Neue Herausforderungen für die Heidelberger Bibliotheken

Marshall McLuhan war es, der Anfang der 1960er Jahre den Begriff von der Gutenberg Galaxis prägte. Der revolutionäre Buchdruck, so der amerikanische Soziologe, hatte ein neues Leitmedium geschaffen, mit dessen Hilfe nicht nur die Alphabetisierung weiter Teile der Gesellschaft beschleunigt werden konnte. Auch in der Wissenschaft begann mit der immer stärkeren Verbreitung der „tragbaren Ware“ Buch (McLuhan) eine neue Epoche. Für die meisten Fächer stieg die Bibliothek zum wichtigen, teilweise unverzichtbaren Werkzeug auf. Ausstattung und Bestand von Büchersammlungen wurden somit zu bedeutenden Standortfaktoren einer Universität. Mit dem Aufkommen der digitalen Speichermedien und des Internets spätestens seit Mitte der 1990er Jahre scheint sich jedoch ein Ende des Gutenberg-Zeitalters anzubahnen, zumindest aber hat das Groß- und Kleingedruckte mächtig Konkurrenz bekommen – ein Wendepunkt, zumal für die Bibliotheken.

„Wir verstehen uns als eine hybride Bibliothek“, sagt Dr. Veit Probst, Direktor der Universitätsbibliothek. Das meint im Jargon der Bibliothekare, dass zur traditionellen Tätigkeit des Sammelns von Büchern und deren Bereitstellung inzwischen zahlreiche elektronische Dienstleistungen hinzugekommen sind: Etwa 20 000 Online-Journale werden in Heidelbergs größter Bibliothek momentan angeboten, rund 1130 Datenbanken befinden sich im Netz. Wissenschaftler können Artikel aus gedruckten Zeitschriften bestellen, die eingescannt und innerhalb von 24 Stunden als Datei bereitgestellt werden (Electronic Document Delivery). Und die Digitalisierung hat auch die ältesten und kostbarsten Bestände erreicht. Hinzu kommen zahlreiche Bildbestände, beispielsweise der Diatheken einzelner Institute, die nunmehr auf Computerbildschirmen gesichtet werden können.

Vom Papier zur Datei

Die Vorteile der schönen neuen Medienwelt liegen auf der Hand. Volltextrecherchen in elektronischen Texten führen zweifellos zu besseren Suchergebnissen. Deshalb, so Veit Probst, erscheinen manche Literaturgattungen, beispielsweise die großen Bibliographien und tendenziell auch Lexika, kaum mehr in gedruckter Form. Die Enträumlichung der Information kann zudem äußerst komfortabel sein – und sei es nur, dass man außerhalb der Öffnungszeiten einer Bibliothek sich von zuhause aus Zugang zur Netzversion eines Buchs verschaffen kann. Im Falle der Digitalisierung alter Manuskripte stehen schließlich konservatorische Gründe im Vordergrund. Dr. Armin Schlechter, Leiter der Handschriftenabteilung und somit Hüter der Schatzkammer der Universitätsbibliothek, weist darauf hin, dass ein elektronisches Surrogat etwa 90 bis 95 Prozent aller wissenschaftlichen Fragen an die Handschrift bereits beantwortet. Das Original kann somit im Tresor geschont und muss nur zu besonderen Anlässen – etwa einer Ausstellung oder für ganz spezielle Untersuchungen – herausgeholt werden.

Das allerdings, so Schlechter weiter, ist in diesem Bereich nicht unbedingt etwas Neues. Bevor Scanner und Digitalkameras die Herrschaft übernahmen, fertigte man aus diesen Gründen bereits im 19. Jahrhundert Faksimiles an, zunächst in Form von Lithographien. Als neue Techniken setzte sich dann im 20. Jahrhundert die Verwendung von Mikrofilmen und Mikrofiches durch. Die heutige Digitalisierung steht vor allem im Zusammenhang mit der Bereitstellung der alten Handschriften im Internet. Sie sind damit besser zugänglich und können dem Forscher aus Übersee möglicherweise eine Reise an den Neckar ersparen. Auch hier spielt also der Aspekt der Enträumlichung eine Rolle – Willkommen im „globalen Dorf“ des Informationszeitalters.

Der Vorgang selbst, also der Weg vom Papier zur Datei, geht inzwischen relativ flott über die Bühne. In der Digitalisierungswerkstatt der Universitätsbibliothek wird an zwei mit hochauflösenden Digitalkameras ausgestatteten Kameratischen gearbeitet, den so genannten Grazer Buchtischen. Dieses speziell zur Digitalisierung von Handschriften entwickelte Gerät ermöglicht durch seine spezielle Konstruktion eine kontaktlose Erfassung fragiler Objekte auf äußerst schonende Weise. Mit Hilfe eines Laserstrahls wird das Buch exakt positioniert, die aufgeschlagene Seite jeweils durch den milden Sog einer Unterdruckeinrichtung fixiert. Zugleich ist gewährleistet, dass die Kamera immer im rechten Winkel auf das Blatt schaut, so dass Verzerrungen minimiert werden können. Bedeutendstes Projekt in Heidelberg ist derzeit die vollständige Digitalisierung aller Codices palatini germanici.

Buchbibliothek versus digitale Revolution

Bei aller Begeisterung über die Möglichkeiten der heutigen Technik – noch handelt es sich bei Heidelbergs Bibliotheken nicht um virtuelle Gebilde. Ein wenig trotzig betont Veit Probst, dass sein Haus natürlich auch weiterhin eine „Buchbibliothek“ mit momentan rund 3,5 Millionen Bänden sei. Mit etwa 1,5 Millionen Ausleihen in diesem Jahr rangiere man unter den ersten fünf Einrichtungen dieser Art in Deutschland. Und dennoch: Die digitale Revolution ist auch am Neckar bereits mit einschneidenden Strukturveränderungen verbunden. „Einzelne Institutsbibliotheken in den Naturwissenschaften und der Medizin schrumpfen“, so der UB-Direktor, „inzwischen parallel zur immer flächendeckenderen Versorgung mit Online-Produkten. Im Bereich des Klinikums kam es sogar schon zum vollständigen Abbau von Büchersammlungen.“

Doch nicht nur diese Entwicklung hat in den letzten Jahren das Heidelberger Bibliothekssystem erheblich verändert, sondern auch eine Maßnahme, die mit Hilfe des Rektorats vor dreieinhalb Jahren in Angriff genommen wurde, nämlich die Übernahme sämtlicher Fachkräfte der 83 dezentralen Bibliotheken in den Stellenpool der Universitätsbibliothek. Der Hintergrund dieses Vorgangs ist, dass ein großes Bibliothekssystem „nur dann gedeihlich und betriebswirtschaftlich effizient organisiert werden kann, wenn eben der bibliothekarisch Hauptverantwortliche auch den Zugriff auf die Fachbibliothekare in den Instituten hat“, erklärt Veit Probst – Themen wie Weiterqualifikation, Leistungsanreiz, transparente Geschäftsgänge spielen hier eine Rolle.

Für den Nutzer sind die dadurch erzielten Fortschritte allerdings nicht unbedingt auf den ersten Blick erkennbar. Das meiste, so Rike Balzuweit, Stellvertreterin von Veit Probst und zuständig für die dezentralen Bibliotheken, spiele sich eher hinter den Kulissen ab. Zum Beispiel bei Neuerwerbungen: „Gerade in Zeiten von Finanznot ist es wichtig, hier genau hinzuschauen. Wir wollen vermeiden, dass teure Monographien unter Umständen mehrmals angeschafft werden. Auch im Zeitschriftenbereich gibt es Handlungsbedarf. So gab es in der Vergangenheit sehr viele Printdubletten. Da Online-Campuslizenzen aber meist am Abonnement einer Printausgabe hängen, konnte man Einsparungen ins Auge fassen, ohne qualitativ etwas einzubüßen.“ Das gesparte Geld werde, wenn möglich, zugunsten einer höheren Titelvielfalt eingesetzt. Ganz ohne Widerstände, gibt Veit Probst zu, ist diese Zentralisierung, die immerhin den Institutsbibliotheken ein Stück Autonomie genommen hat, nicht erfolgt. Wichtig sei es nun, dass sich diese noch stärker profilieren.

Damit hat Dr. Eleonore Schmitt kein Problem. Sie ist Leiterin der Bibliothek des Südasien-Instituts (SAI) im Neuenheimer Feld. Voller Elan führt sie durch das Gebäude und zeigt die Bestände, darunter eine indische Schulbuchsammlung. Vor zwei Jahren habe man, erzählt sie, von der Universität Tübingen das DFG-Sondersammelgebiet „Südasien“ übernommen. Angeschafft werde, und das möglichst komplett, Literatur aus und über diese Region zu allen möglichen Fachgebieten – zur Literatur und Sprache, zur Geschichte und Politik oder auch zur Medizin und zu den Wirtschaftswissenschaften, sofern ein Bezug zu regionalen Traditionen besteht. So mancher Wissenschaftler aus dem Ausland reise extra nach Heidelberg, um die Neuerwerbungen zu sichten. Auf der diesjährigen Frankfurter Buchmesse mit dem Schwerpunkt Indien hat man sich mit einem Stand einer größeren Öffentlichkeit vorgestellt.

Auch am SAI ist ein Nebeneinander von Gedrucktem und Digitalem längst Alltag. Parallel zur Übernahme des Sondersammelgebiets wurde mit der virtuellen Fachbibliothek „Savifa“ ein Informationsportal geschaffen, das einen schnellen und umfassenden Zugang zur wissenschaftlichen Recherche im Internet sowie zu einer Vielzahl von Informationen erlaubt. Wie auch auf den Seiten der Universitätsbibliothek findet man hier außerdem ein Publikationsportal (SavifaDok), auf dem Wissenschaftler ihre Forschungsergebnisse zeitnah, unbürokratisch und kostenfrei veröffentlichen können. Und im Angebot fehlen auch nicht, was Veit Probst als „neue Pflicht für die Bibliotheken“ bezeichnet: Schulungen. Gerade für die Studierenden im ersten Semester erscheint eine solch große Bibliothek in der Kombination traditioneller und elektronischer Dienste so unübersichtlich und zunächst einmal so erschlagend, dass diese erst an die Hand genommen werden müssen.

Lese-Inseln mit Lounge-Charakter

Und das wird genutzt. Wandelt man durch die Lesesäle, so stellt man außerdem fest, wie wichtig und stark nachgefragt – trotz aller Enträumlichung – auch weiterhin die Bibliothek als Rückzugsgebiet ist, sei es zum Arbeiten, Lernen oder auch als Ort der Kommunikation. Gängig ist heute folgendes Bild: Neben dem aufgeschlagenen Buch steht der Laptop, nicht selten mit Internetanschluss – alte und neue Medien befinden sich also in einträchtigem Nebeneinander. Von Schrumpfung kann gerade in der Universitätsbibliothek keine Rede sein. Die Öffnungszeiten möchte man noch weiter ausdehnen, hier hofft man unter anderem auf den Topf mit den Studiengebühren, über deren Verteilung sich gerade eine Senatskommission Gedanken macht. Große Erwartungen setzt man zudem auf eine „Norderweiterung“. Durch den anstehenden Umzug der Soziologen und Volkswirte in den Stadtteil Bergheim werden nämlich Räume im Triplexbereich neben der Universitätsbibliothek frei. Die sollen dann künftigen Neuerwerbungen eine Heimat bieten, den Freihandbereich erweitern, aber auch die Möglichkeit zur Anlage von rund tausend Benutzerarbeitsplätzen schaffen.

Die Fakultät für Wirtschafts- und Sozialwissenschaften aber wird mit einem viel versprechenden „Medienzentrum“ für die Strapazen des Umzugs gewissermaßen entschädigt. Als neues Domizil auserkoren ist nach dem Auszug der Inneren Medizin ins Neuenheimer Feld die Ludolf-Krehl-Klinik in der Bergheimer Straße. Und was in anderen Fällen nur virtuell möglich ist, nämlich die Zusammenfassung einzelner Einheiten zu einer ganzen Fakultätsbibliothek (wie zum Beispiel in der Theologie), wird in diesem Falle Realität.

Denn durch den Umzug finden drei große Institute einer Fakultät (neben der Soziologie und den Wirtschaftswissenschaften gehören zu ihr noch die Politikwissenschaften) unter einem Dach Platz. Voller Begeisterung zeigt Rike Balzuweit die Pläne. Hier, erklärt sie, entstehen Lese-Inseln mit Lounge-Charakter, dort sollen kleine Kabinen eingerichtet werden als Arbeitsplätze für Doktoranden und Nachwuchswissenschaftler. Eine Bibliothek für morgen – auf dem allerneuesten Stand. Im Januar sollen die Baumaßnahmen beginnen.

Und wie ist es generell um die Zukunft der Gutenberg-Galaxis bestellt? „Die elektronische Datenverarbeitung und vor allem das Internet haben die Serviceleistungen der Bibliotheken grundlegend verändert und neu geprägt“, resümiert Veit Probst. „Das war zweifellos ein großer Schritt in eine neue Dimension. Die Frage, ob eine ähnliche Revolution, wie sie seit Mitte der neunziger Jahre aufkam, demnächst wieder zu erwarten ist, würde ich persönlich aber eher verneinen.“ Der Direktor der Heidelberger Universitätsbibliothek geht stattdessen davon aus, dass jetzt eine „neue Ebene“ erreicht sei, die erst einmal ausgestaltet und erweitert werde. Und in einem ist er sich ziemlich sicher: „Das konventionelle Buch wird nicht verschwinden.“ Aller Unkenrufe zum Trotz.

Oliver Fink

 


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Heidelberg, den 19. Februar 2006